Jan Frederick Moll

Jan Frederick Moll

* 30.08.1995
† 30.08.2013
Erstellt von Detlef Moll
Angelegt am 07.09.2013
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Kondolenzen (16)

Sie können das Kondolenzbuch nutzen, um den Angehörigen Ihr Beileid zu bekunden, Ihrer eigenen Trauer Ausdruck zu verleihen oder um dem Verstorbenen einige letzte Worte des Abschieds mitzugeben.

Kondolenz

Freddy (2013)

30.08.2016 um 14:41 Uhr

Freddy, wie ist es im Himmel zu sein?

Oder bist du nicht dort oben?

Wartest du noch immer auf bessere Zeiten?

Oder ist der Ort, an dem du jetzt bist, 

schön und gerecht?

 

Freddy, erinnerst du dich an früher?

Erinerst du dich, dass wir wirklich Spaß hatten?

Sitzt du immer noch auf deiner Regenwolke?

Oder hältst du jetzt Kurs auf die Sonne?

 

Die Leute tun so, als ob sie's nicht sehen würden, 

sie vernachlässigen blind dich und mich,

und niemanden hier scheint es zu interessieren, 

wenn ich aufstehe und schreie: 

'ER IST NICHT DA!'

 

Freddy, wo gehst du hin, wenn du dich einsam fühlst?

Fühlst du dich sicher und geborgen?

Oder spürst du auch den kühlen Wind, 

der weht, seitdem du nicht mehr da bist...

 

Die Leute tun so, als ob sie's nicht sehen würden, 

sie vernachlässigen blind dich und mich,

und niemanden hier scheint es zu interessieren, 

wenn ich aufstehe und schreie: 

'ER IST NICHT MEHR DA!'

 

Freddy, wie ist es im Himmel zu sein?

Oder bist du nicht dort oben...

Kondolenz

Freddy (2011)

30.08.2016 um 14:34 Uhr

Freddy sitzt in einem Zug nach Nirgendwo

auf halbem Wege

er will dort nicht ankommen

aber er braucht Zeit...

 

Er ist gebildet

und gut erzogen

nach all der Zeit, die er verschwendet hat,

braucht er noch mehr...

 

Er braucht Zeit

er braucht Zeit zum Leben

er braucht Zeit,

um von jemandem gesehen zu werden!

 

Er hatte keine Liebe

ohne besondere Gründe - 

und die ganze Welt ist gegen ihn - 

 

Nun, es ist nicht so, als ob er fett wäre, 

nein, da steckt mehr dahinter.

Sieh, er versucht 'cool' zu wirken,

er würde sich vor niemandem verbiegen.

 

Freddy dachte, dass alle guten Dinge

denjenigen gebühren, die geduldig sind.

Aber neuerdings konnte er sehen,

dass all das zu spät kommen kann

zu spät

zu spät - 

 

Dein ganzes Leben, und all die letzten Jahre

'niemand liebte, niemand kümmerte sich!'

Lösche das Licht, dunkel sind deine Ängste 

'Versucht es, wie ich! Gott, ich kann die Tränen nicht halten!'

Wie kannst du ohne Liebe leben? das ist nicht fair! 

'Jemand sagte: Gebe! Aber ich habe mich nicht drum gekümmert! (hab mich nicht getraut)!'

Welch guten Rat erwartest du nun zu hören?

'Hören ist gut! Für sie ist das Leben unbeschwert! Hören ist gut...'

Du solltest die Kontrolle erlangen, 

Du solltest es ihnen allen zeigen, 

Du solltest erschaffen und zerstören,

Du solltest geben und nehmen,

Du solltest drängen und schubsen,

Du solltest etwas Liebe finden,

Du solltest die Kontrolle erlangen...

 

Jetzt kommt er gerade aus dem Kino

taub von all dem Schmerze

traurig, aber nach einer Weile

wird er wieder in seinem Zug sitzen........

Kondolenz

Gedanken von Frederick über seine Balkanreise Winter 2012

29.08.2015 um 16:39 Uhr

Von Momo angeregt/inspiriert/überredet entstand die Idee nach kill.me's Tripberichten. Na na, nicht solche Trips. Besser gesagt – Begegungen am Straßenrand.

In ein Tagebuch will ich es nicht packen – es ist keins. Ich maße mir an das Thema philosophisch einzuordnen. In den Geschichten, die sich in meinem Kopf abspielen, geht es um nichts anderes – Begegnungen. Diese hier haben stattgefunden. In meinen zwei Reisen gen Osten. Großer Rucksack, dünner Schlafsack, kaum Geld – und ein mir selbst mühsam abgewonner Glauben an die Menschheit. An dieser Stelle möchte ich allen Wahnsinnigen danken, die mit mir in Kontakt bleiben wollten, nachdem sie einen völlig Fremden (nach außen hin – einem in schwarz gekleideten, merkwürdigen Mann) einen Schlafplatz, Essen und Hoffnung geschenkt hatten. Leider konnte ich Eure Erwartungen nicht erfüllen – zum Kontakte halten bin ich nicht fähig. Doch Thema sollen vielmehr die Menschen sein, die ich traf, ohne mich jemals an ihre Namen erinnern zu können, ohne sie jemals gekannt zu haben. Irgendwo, zwischen deutscher Großstadt, dem finnischen Meerbusen, den Weiten der sowjetischen Kornkammer und den Berg dörfern Südosteuropas.

 

Menschen wie die von der Lukoil am Autoput, eine legendäre Straße, war sie in besseren Zeiten doch der Traum eines jeden kleinen, schüchternen Jungen, der die großen Trucks mit ihren aufgepinselten, weitgesteckten Reisezielen am Fahrerhaus davonfahren sah. Genug der Illusion, das war vor meiner Zeit. Die Autoput ist vierspurig ausgebaut, die Tankstellen der Russenmafia wachsen wie Pilze aus dem Boden und die arme Bevölkerung Südserbiens freut sich widerwillig über die monatlichen 300.- Euro fürs Betanken der Gefährte, dessen Reisende ihnen kaum einen müden Blick schenken. In drei Nächten, die man mangels Zelt dankbar hinter einer Art Kompressor bzw. Benzinpumpe verbringt, um Novemberwind und Regenschauer nicht bis in die letzte Schlafsackritze eindringen zu lassen, hat man Zeit. Vor allem, wenn – zugegeben – die tagsüber eintreffenden Reisenden nicht besonders redselig sind. Nein, in den Kosovo will hier niemand. „Die klauen hier wie die Raben“ predigt ein leicht vorurteilsbehafteter, trotzdem freundlicher tschechischer Sattelzugfahrer, „Im Sommer ist es besonders schlimm“. Nachdem ich ihn, einen Blick aufs Kennzeichen werfend, in meiner Muttersprache begrüßt hatte, nutzte er gerne ein paar Minuten seiner eng bemessenen Zeit. Natürlich spreche er polnisch, er wäre ja gleich an der Grenze aufgewachsen, Schlesien. Nur einer von vielen missglückten Versuchen, eine von vielen Fahrten in die richtige Richtung zu erwischen. Irgendwann fangen sie immer an, sich für einen zu interessieren. Die von hier, die hier arbeiten. Manchmal ist man weg bevor sie sich trauen. Falls nicht – Kontaktaufnahme. Okaaay, „dobar dan“ krieg' ich hin. Tatsächlich findet sich Einer, der des Englischen mächtig ist. Man redet ein wenig. Ungläubige Blicke. Ja, die Jahreszeit ist mir bewusst. „Oh, Schlafplatz? Naja, ich dachte da hinten wäre okay...“ Das wäre geklärt. Drei Nächte später – ob ich mitgenommen wurde – nein. Ich würde heute noch da stehen. Ungünstiger Ort, Pech gehabt. Am Abend vor der vierten Nacht gehe ich, die Autobahn entlang, Richtung Kosovo. Und denke an die vielen Menschen der wechselnden Schichten, die ich kennenlernen durfte. Da war die Dame im mittleren Alter. „English?“ - „Srpski“. Sie bricht die Mauer – es wird übersetzt. Ich bekomme Essen, von der Belegschaft. Abgelaufene Tanke-Sandwiches, ab und zu. Die nehmen sie sonst nach Hause mit. Eines morgens, fröstelnd sitze ich auf der „Außenterrasse“. „Chai, chai“ sie macht eine Trinkbewegung. Tee ist ein wundervolles Getränk – nicht nur, dass er wärmt, der Name ist im Serbischen gleich wie im Russischen. Zum Glück hab' ichs mal aufgeschnappt. Mit meinem polnischen „herbata“ wäre ich ziemlich abgeschmiert. Dank der lieben Dame lerne ich auch gleich danke sagen, auf srpski. „hvala“. Kurz bevor ich gehe, Richtung Kosovo, bringt sie mir noch was vorbei. Da sitz' ich hinter dem Generatorteil, packe meinen Kram. Aus dem Nichts taucht sie auf. Und genauso ist sie auch wieder weg – ohne große Worte. Hmmm, Kosovo. Die Neugier hatte mich gepackt. Der junge Mitarbeiter, der ebenfalls englisch sprach, hatte mein Interesse erst recht geweckt. Und mein Unverständnis verstärkt. Ihn hatte ich angesprochen, mein Interesse weckte das Kennzeichen, PR – Prishtine. Nein, falsch. Pristina. Das SRB prangt an der linken Seite. So erlebe ich eine perplexe Situation – einen Menschen, der mit seinem Wagen dort nicht hindarf, wo dieser offiziell angemeldet ist. Er wohne nahe der Tanke, in der Großstadt. Er kommt aus dem Kosovo. Nur mit einem kosovarischen Kennzeichen würde man ihn in Serbien verhaften, sein Auto beschlagnahmen. Dafür müsste er ein Papierkennzeichen hinter der Scheibe haben. Auf Dauer geht das aber nicht. Und im Kosovo, seiner Heimat, würden sie ihn mit einem serbischen Kennzeichen, welches ein Kürzel einer im Kosovo liegenden Stadt zeigt, ebenfalls verhaften. Sein Wagen wäre weg. „Wenn ich meine Familie besuchen fahre müssen mich ab der Grenze Freunde abholen. Mit 'nem albanischem Blech dran“. Ich bin sichtlich perplex. Irgendwann scheint es ihm unangenehm zun werden. Kommt mir vielleicht aber nur so vor. Kurios, sehr kurios. Mittlerweile bin ich, in meinen Gedanken versunken, ein gutes Stück gewandert. Wenn ich darf blicke ich gedanklich kurz zurück. Auf die Polen im Benz mit Anhänger. Saloniki, nicht meine Richtung. Oder den Herrn, der mich fragte, ob ich Geld brauche. Nein. So wenig hatte ich auch nicht mitgenommen. Um nicht umkehren zu müssen. Nicht des schnöden Mammons Willen. Nun, langsam wird es dunkel. Der Himmel ist klar – über dem Autobahnkreuz. Inmitten des ganzen Asphalts – auf einer grünen Insel, ein schöner Ort zum schlafen. So zünde ich mir eine letzte „Drina“ an. Das rote „bic“ hab' ich heute noch – das von der Tanke.

 

 

Verzeiht bitte meinen wirren Schreibstil und eventuelle Gedächtnislücken.

Kondolenz

Joanna Moll

03.04.2015 um 17:47 Uhr

Gestern vor 6 Jahren, am Donnerstag, den 2.4.2009, gegen 16 Uhr soll sich Frederick in einem Spiel (seine Aussage) oder in einem „blödem Gerede über Zombies“ (Aussage eines Zeugen) „sarkastisch geäußert haben“ (Aussage der Schule), weshalb ein Mädchen weinend „unter den Tisch gekrochen war“ (Aussage der Polizei), weil das Mädchen Frederick „gar nicht verstanden hat“ (Aussage eines Zeugen). Für das Weinen des Mädchen fühlte sich Frederick schuldig. Für seinen Satz, der an niemanden persönlich gerichtet und für ihn völlig ohne jegliche Bedeutung war, fühlte er sich jedoch verantwortlich.

Heute vor 6 Jahren, am Freitag, den 3.4.2009 wurde er deshalb von 9-10 Uhr von den Lehrern verhört und ab 10 Uhr weiter bis 12 Uhr von der Polizei „begutachtet“ und „befragt“.

„Was hast Du gesagt ?“, fragte man ihn. Den vollständigen Satz hatte er, da er für ihn ohne jegliche Bedeutung war, vergessen.„Was wolltest Du machen ?“ Da er nichts machen wollte, wusste er die Antwort nicht. „Wir wissen, was Du machen wolltest“, sagten die Lehrer zu ihm. Und weil sie es „wussten“, suchte man in seinem Zimmer nach einer Bombe, die aber nur aus reiner Phantasie zweier Kinder entsprungen war. Aber man wollte Frederick nicht glauben. Sein „Handeln“ sei böse und deshalb „sollte er Bezug nehmen auf die Wirkung seines Handelns auf andere Personen“ (Aussage der Schule) und die Schule forderte von ihm eine schriftliche Entschuldigung, nicht aber von den Anderen. Er sollte sich „darüber Gedanken“ machen und musste sich öffentlich vor vielen Kindern entschuldigen. Diejenigen aber, die gelogen hatten mussten dies nicht tun. Sie blieben von den Lehrern gut verdeckt, wurden als unschuldig und als Opfer angesehen. Frederick hatte sich darüber „Gedanken“ gemacht. Hatte er die Sichtweise der Schule angenommen? Er musste das machen – es waren SEINE Lehrer.

Der Grund des Misstrauens war „Frederick sei ein hochbegabtes Kind.“ (Aussage der Schule) und sein kritisches Denken.

Hat er das verstanden und als gerecht empfunden?

Zwei Jahre später schrieb Frederick: „Ich wollte Dir von meinem Freund, dem Tod erzählen. Es ist die Entwicklung einer Freundschaft, die Ostern 2009 begann.“

Kondolenz

der Traumverkäufer (Teil 1)

30.08.2014 um 13:59 Uhr von John M. Cat

Der Traumverkäufer

(11.Juli 2013)

 

 

Als ich über die flachen Holzpfähle am Sandkastenrand balancierte und eine undefinierbare Melodie leise vor mich hinsummte, spähte ich neugierig hinauf zu den Fenstern im zweiten Stock. Ich hatte fest damit gerechnet, in einem dieser Fenster seine blasse Visage erkennen zu können, aber da war niemand. Ich schluckte die Zweifel wie ein bitteres Bonbon herunter und suchte auf den unzähligen Klingelschildchen nach dem Nachnamen, der mit M begann. Große Erleichterung stieg auf, als ich den richtigen Namen las, und gerade wollte ich meine Hände aus der Hosentasche nehmen und anständig klingeln, da ertönte bereits ein surrendes Geräusch, und die Tür entriegelte sich. Strange. Mit klopfendem Herzen stolperte ich ins dustere Treppenhaus und machte mich daran, die Stufen zu erklimmen. Wahrscheinlich hatte er mich doch vom Fenster aus unten durch den Hof tänzeln gesehen. Komisch, normalerweise hätte er mir zugewunken, vielleicht sogar das Fenster aufgerissen und mich gerufen.

Bevor ich die Situation analysieren konnte, erreichte ich die Tür zur Wohnung seiner Eltern, die bereits einen Spalt weit offen stand. Anders als erwartet wurde ich nicht einen Meter vor der Schwelle der Wohnung von einem guten, alten, fröhlich angetrunkenen Freddy empfangen, dem vor lauter Wiedersehensfreude die Worte fehlten.

Hinter der Tür kauerte eine dürre, weiße Person, bekleidet mit nichts weiter als einem alten, zerknautschten Araberschal um die schmalen eckigen Hüften. Die dunkelroten Flecken zwischen dem schwarzweißen Muster fielen mir erst viel später auf- was ihren Anblick nicht ersprießlicher machte. Die langen dunklen Haare waren zu einem etwas heruntergekommenen Zopf gebunden; neben den gewohnten alten Narben zierten frisch wirkende Striemen den Hals und eine Wange. Erst nach Sekunden, als ich das spitze Grinsen in dem verschüchterten Gesicht wiedererkannte, sah ich, dass es Freddy war.

»Salut, Genosse«, presste ich möglichst freundlich hervor. »Lang’ nicht gesehen.« Sein Äußeres entsetzte mich nur mäßig. Was mich irritierte, war die unsägliche Unsicherheit in seinem Blick. Oder war es vielleicht Scham?

»Komm rein«, murmelte er, und mit gespielter Gelassenheit betrat ich seine Bude.

Einen Moment standen wir zwei uns gegenüber, tonlos und verlegen. Keiner wusste, was nach so langer Zeit gesagt werden sollte. Ich merkte, dass er sich kaum traute, den Blick zu heben, deshalb schenkte ich ihm zur Begrüßung mein allerbestes Grinsen.

»Gut siehst du aus mit den kurzen Haaren«, sagte er und ich wusste, dass er es ehrlich meinte.

Als Reaktion darauf nahm ich ihn einfach etwas unbeholfen in den Arm und klopfte ihm nett gemeint auf den Rücken.

»Ich freu mich, dass du gekommen bist, John«, platzte er tatsächlich nach ein paar Sekunden heraus und schob mich nun strahlend wie ein kleines Kind an Weihnachten vor sich her, den Flur hinunter in sein Zimmer. »Bahn dir einfach einen Weg durch das Chaos und setz dich irgendwo hin.«

 

Geschockt hätte ich eigentlich nicht sein dürfen. Von meinem eigenen kleinen Reich Zuhause war ich eine gewisse Unordnung bereits gewohnt. Auch Unordnung hat ein System. Wer zu faul zum Denken oder Suchen ist, der räumt seine Bude auf. Aber ein echter Philosoph sieht nur im Chaos eine Herausforderung! Und dieses Zimmer war die Krönung, der absolute Mercedes unter allen chaotischen Räumen, in denen ich vorher jemals gewesen war. Dabei hatte sich seit meinem letzten Besuch im Mai 2012 gar nicht so viel geändert. Die Möbel waren die alten, bloß das Bettgestell hatte sich verabschiedet und die zerlöcherte Matratze kahl auf dem Boden zurückgelassen. Zwischen Tür und Matratze sammelten sich so viele leere Bierflaschen, dass man den Holzboden kaum mehr sehen konnte. Abgerundet wurde der Anblick diesmal noch durch ein ganzes Sammelsurium an schmutzigem Geschirr und Krimskrams, der überall auf dem Boden verteilt lag. Wie ein Storch in seichtem Teichwasser stakste ich zum Lehnstuhl, der neben dem Bett aus dem Durcheinander hervorragte; meine Füße suchten verzweifelt freie Fleckchen Diele und stießen dabei immer wieder an die Bierflaschen.

»Kannst dich auch auf die Matratze setzen, wenn du magst.«

»Ach, nein, das passt schon«, überspielte ich erfolgreich meine Bestürzung. »Ich setz’ mich hierher.«

»Magst du was trinken?«, bot Freddy mir an, der noch lächelnd in der Zimmertür stand.

»Danke, gleich.«

Und als wären die Flaschen und der ganze Ramsch auf dem Boden nur Luft, tat er leichtfüßig drei Schritte und ließ sich gegenüber von mir auf die Matratze fallen.

»Ist das Bett irgendwie neu?«, fragte ich verwundert. Die Antwort darauf konnte ich mir eigentlich dem Zustand der Matratze gemäß ableiten.

»Nee, der Rahmen ist bloß zusammengekracht und steht jetzt im Keller. Und die Matratze hab ich zerschnitten. Mit denen hier.« Und er deutete auf die Messersammlung, die vor dem Regal auf einer kaputten Kiste thronte. Ich bedachte die schwarzen Exemplare mit einem höflichen Nicken.

»Mit dem hier wurde ich schon mal von den Bullen aufgegriffen«, erklärte er stolz und hielt mir ein Dolchartiges Instrument vor die Nase. »Liegt leicht in der Hand, ist demnach sehr praktisch. Man kann’s auch in einer Scheide am Gürtel befestigen…«

Und er stellte mir mit leuchtenden Augen jedes einzelne Messer vor, deklinierte seine Funktionen und Legalitäten in anderen Nicht-EU-Ländern durch, und zwischendrin, wenn er Luft holte, ließ ich ein bewunderndes »Aha« ertönen. Um nett zu sein, und, weil ich wusste, dass er das brauchte. Ein wenig Anerkennung von einem Freund. Dabei kam mir die ganze Szene schon damals ziemlich paradox vor. Jeder, der Freddy kannte, wusste, dass er niemals einem anderen Lebewesen - außer sich selbst wohlgemerkt - auch nur ein Haar krümmen konnte. Er war der friedlichste Mensch, dem ich jemals begegnet war. Einmal hatte er mir gesagt, dass er sich mit den Messern sicherer fühle. Damals hatte ich die Gelegenheit verpasst, die entscheidende Frage zu stellen: Sicher, wovor?

»Ziemlich cool«, meinte ich nun zu der Messersammlung, ließ meinen Blick aber wieder auf die verstümmelte Matratze schweifen. Mit den dunkelroten Flecken, die tief in den weißen Stoff eingesickert waren, erinnerte sie mich an die Schlaflager der Fixer, die ich im Fernsehen bei Christiane F. gesehen hatte. Schlafen kannst du noch, wenn du tot bist.

»Wieso hast du dein Bett kaputt gemacht?«, wollte ich mit trockener Kehle wissen.

Freddy drehte sich eine Kippe. »Weiß nicht.« Dann schwieg er für einen Moment, und ich schämte mich innerlich schon für meine kreuzdumme Frage. Was erwartete ich denn als Antwort, oder besser: Was wollte ich als Antwort hören?

»Ich musste irgendetwas machen«, nuschelte er schließlich und steckte sich die Kippe zwischen die Lippen. »Um nicht durchzudrehen…« Die Flamme zuckte auf und färbte das eine Ende des Glimmstängels glühend rot. »Es stört dich doch nicht, dass ich hier rauche, oder?«

Ich schüttelte stumm den Kopf, hatte kaum zugehört.

»Meine Alten schon«, grinste er. »Aber solang die nicht da sind, geh ich nicht extra für jede Kippe auf’n Balkon. Da wird kurz bevor die wiederkommen mal ordentlich gelüftet, und dann geht der Mief aus dem Zimmer. Hat bisher immer irgendwie geklappt…«

»Wenn du meinst.«

»Doch, wirklich. Und wenn nicht, ach, scheiß drauf! Sollen die sich ruhig aufregen. Ist zwar nicht meine Bude, aber immerhin mein Zimmer. Ich hab einfach keinen Bock, jetzt aufzustehen. Und außerdem…« Er hielt kurz inne, weil er den Verdacht bekam, dass ich ihm nicht zuhörte. »Willst du mal meine Münzen aus dem Osten sehen?«

Ich nickte neugierig und er griff in das Regal an der Wand über der Matratze und beförderte eine handvoll silberner Münzen ans Tageslicht. »Die sind aus verschiedenen Ländern. Die hier ist aus Serbien, die aus Montenegro…«

»Cool«, sagte ich bewundernd und drehte das Geld zwischen meinen Fingern. »Hast du viele Münzen mitgebracht?«

»Schon. Ich hab auch Papiergeld«, und er kramte bereits nach seiner Brieftasche. »Von den Münzen kannst du gerne ein paar haben. Nur nicht von den Scheinen, die möchte ich behalten.«

»Du bist ja ordentlich rumgekommen«, bemerkte ich anerkennend und reichte ihm das Geld zurück. »Wo genau warst du nun?«

Ich erinnere mich noch heute an das Lächeln, welches Freddys Wangen zierte. Es war ein stolzes Lächeln. Ein stolzes Lächeln, das sagte: Ich zeige meinem kleinen Bruder die Welt!

Was nun folgte, war ein sehr ausführlicher Bericht über seine Reisen in den wilden Osten. Bei Google Maps zeigte er mir die genaue Reiserute quer durch den Balkan. Er erzählte mir von den vielen kalten, einsamen Nächten, die er unter Sternenklarem Himmel zitternd und rauchend in seinem Schlafsack verbracht hatte, der nur einen winzigen Spalt offen stand, damit der Rauch der Zigarette abziehen konnte; er erzählte von den langen LKW-Fahrten und vor allen Dingen: Von den Menschen. Die vielen Menschen, die ihn aufgenommen hatten, ihm Essen und ein wenig Nettigkeit geschenkt hatten.

»Es gibt nämlich auch soziale Menschen da draußen«, hatte er zu mir gesagt und mir dabei zur Illustration seiner Geschichten Youtube-Videos von den kurvigen Straßen in verlassenen Teilen des Balkans gezeigt.

Ich war begeistert und kann es bis heute kaum fassen, dass er alleine so weit gereist ist. Schließlich kommt mir der Balkan wie ein anderes Universum vor.

»Das ist es auch«, sagte Freddy in einem verträumten Ton, den er oft unterbewusst verwendete, wenn er sich an etwas erinnerte. »Der ganze Osten ist eine Welt für sich.« Und er zündete sich eine neue »Ziggie« an (so nannte er seine selbstgedrehten, filterlosen schmalen Zigaretten).

»Und du bist der Experte«, kommentierte ich.

Er grinste. »Vielleicht.«

Eine kurze Stille setzte ein, in der jeder seinen Gedanken nachhing.

»Du, ich will nicht unhöflich sein«, brach ich schließlich etwas verklemmt das Schweigen. »Aber wie sieht’s mit Klavierspielen aus? Darf ich?«

Kaum hatte ich es ausgesprochen, sprang der Gastgeber schon auf und räumte bereitwillig das schöne braune Klavier neben dem Fenster zum Hof frei. Ich hatte mich bereits bei unserem ersten Treffen Hals über Kopf in dieses Instrument verliebt. Es klang zwar bei jedem Besuch schrecklicher, da es sich immer mehr verstimmte, aber nichtsdestotrotz war es ein ganz herrliches Klavier! Und was ich am meisten liebte, war Freddy darauf vorzuspielen. Er war ein vorzüglicher Zuhörer. Es sollte eine lange Zeit dauern, bis mir das nächste Mal so ein Publikum vergönnt werden würde. Ich setzte mich also auf den schwarzen Hocker und fuhr mit den Fingern über die Klaviatur.

»Was soll ich spielen?«, fragte ich etwas schüchtern. Die Antwort war immer dieselbe.

»Ist egal. Ich mag alles, was du spielst, das weißt du doch«, sagte Freddy, der sich neben mich auf eine Kiste gesetzt hatte und sich mit den Ellenbogen auf die Knie gestützt bereits auf die musikalische Reise vorbereitete.

Ich ließ ihn nicht lange warten und spielte, was mir gerade in diesem Moment in den Sinn kam. Ein banales Liebeslied. Die ersten noch zaghaften Töne erklangen und füllten die Stille des Zimmers. Harmonie drang in jeden Winkel, und die Musik legte sich auf unsere Ohren und machte uns für einen Moment taub für diese Welt. Wenn ich alleine bin und nur für mich spiele, dann versinke ich in meiner Musik wie in einem tiefen Sumpf. Doch an jenem Tag, da ich einen Zuhörer hatte, konzentrierte ich mich auf den Text, die Akkordabfolge, den Klavierlauf der rechten Hand und auf meine eigenen Gefühle. Ab und an schielte ich hinüber zu meinem Zuhörer. Freddy saß völlig ruhig neben mir wie in Trance; ich bezweifelte sogar, dass er atmete. Nach dem ersten Song zierte wieder ein Lächeln seine Wangen. Diesmal war es ein gerührtes Lächeln.

»Schön«, hauchte er. Es klang fast traurig. »Du spielst so schön, Johnny.«

»Danke sehr«, sagte ich artig und fühlte mich insgeheim unglaublich geehrt. »Es bedeutet mir viel, wenn du sagst, dass dir meine Musik gefällt. Weißt du, sie besteht nur aus Gefühlen und Erinnerungen.«

»Ich weiß«, sagte Freddy mit ruhiger, klarer Stimme. »Wenn ich dich spielen höre, dann kann ich träumen. Dann bin ich ganz ruhig. Es gibt keine Probleme. Es ist so, als würde ich diese Welt für einen Moment verlassen.«

»Und das ist gut, nehme ich an?«

»Ja.« Er hielt kurz inne mit seiner Gefühlsbeschreibung. Ich nutzte diesen Moment und stimmte ein anderes Lied an.

 

Ich weiß leider nicht mehr, welche Lieder ich spielte, da es mehr als ein halbes Dutzend an diesem Nachmittag waren. Als krönender Abschluss erfolgte meine bescheidene Version von Supertramps Crime Of The Century. Hierfür haute ich noch einmal richtig in die Tasten, holte alles aus dem alten, aber für mich in gewisser Weise majestätisch klingenden Klavier, heraus. Den Text dazu schrie ich fast, es klang wie ein Gebet im stärksten Sturm: »Now they’re planning the crime of the century. Well, what will it be?«

Ich sah durch meinem eigenen Schwall an Gefühlen hindurch Freddy, der neben mir hockte und mit blasser Miene seinen mageren Oberkörper im tragenden Takt der Musik ganz leicht vor und zurück schwenkte wie ein Metronom. Ich sah, dass er leicht zitterte und sein Gesicht war völlig dieser Welt entrückt. Plötzlich bekam ich Angst. Ein leichter Grusel durchfuhr mich und ließ mein Herz heftig gegen den Brustkorb pochen. Ich sah, wie Freddys geschlossene Augenlider hinter den Brillengläsern zuckten. Wenn ich mich heute an diesen einen Moment zurückerinnere, verspüre ich dieselbe Angst wie damals. Kann man einen Menschen mit Musik am Leben erhalten?

Als der letzte Ton verhallt war und ich mich mit schwitzigen Fingern und immer noch in Ekstase auf meinem Hocker zurücklehnte, wartete ich gespannt auf eine Reaktion Freddys. Ich erinnere mich, wie sich zuerst die Falten auf seiner Stirn glätteten, er zweimal tief durchatmete, dann seine Augen öffnete und mich anschaute. Unsere Blicke trafen sich für wenige Sekunden. In seinen Augen ging eine ganze Welt auf. Das Fenster zur Seele, zu seinem sternenbevölkerten inneren Nachthimmel schien einen Spalt weit geöffnet und gab ein Stück pechschwarze Unendlichkeit frei. Ich war schockiert, denn so etwas hatte ich noch nie gesehen. Normalerweise war Freddy ein Meister der Maskerade. Er verbarg seine Verletzlichkeit hinter schier unbegrenztem Wissen über die Dinge, die ihn interessierten (was so ziemlich alles war), polemischem Sarkasmus und ellenlangen Tiraden über die Probleme der Welt. So kannten ihn wohl die meisten Menschen. Dass es eine andere Seite - einen anderen Freddy - gab, wusste ich schon lange. Er vertraute mir mehr, als es mir damals lieb war. Vertrauen heißt Verantwortung.

»Danke«, murmelte er mit kaum hörbarer Stimme und senkte für einen Moment den Kopf. Ich war wie erstarrt, konnte mich kaum rühren. Als er seinen Blick wieder hob und ich den Sternenhimmel in seinen Augen sah, bemerkte ich noch etwas anderes. Das untere Lied war ganz rot geworden und das Auge darüber versank hinter einer salzwässrigen Schicht.

»Ich denke, das war’s«, sagte ich verwirrt und klappte den Tastenschutz vorsichtig aber bestimmt herunter. Ich hatte ein ganz mieses Gewissen; ich wollte nicht, dass er weinte. Aus heutiger Sicht betrachtet, habe ich damit in diesem einen Moment meinen ganz persönlichen Teil zum Crime of the Century beigetragen. Denn wer so lange Zeit nicht weinen kann, der empfindet jede salzige Träne wie eine schreckliche schmerzhafte Erlösung. Und Freddy konnte, meines Wissens nach, nicht weinen. Trotzdem beendete ich die Szene, in dem ich mich vom Klavier wegdrehte und ein gequältes Lächeln aufsetzte. Freddy verstand das Signal und stand auf, um sich eine Zigarette zu drehen.

 

»Kannst du eigentlich mittlerweile Noten lesen?«, fragte er, ohne sich nach mir umzudrehen. Ich schüttelte stumm den Kopf, während er in seinem Chaos nach dem Tabak suchte. »Ich habe noch irgendwo die ganzen Notenblätter aus der Klavierschule. Die würde ich dir gerne schenken.« Und bevor ich mich dazu äußern konnte, zündete er sich die nächste Kippe an, bahnte sich einen Weg zum Kleiderschrank und brachte eine schwere Kiste zum Vorschein. Darin befanden sich ein ganzer Stapel bunter Mappen und Hefte – voller Musiknoten.

Wir gingen jede einzelne Sammlung aufmerksam durch. Freddy erzählte mir von seiner Klavierlehrerin, die er wirklich gern gehabt hatte, und von den Konzerten in seiner Kindheit. Zwischen den Noten fanden sich über die Jahre leicht zerknautschte Zettel; Konzertankündigungen. In der Liste der Musiker befand sich jedes Mal auch ein gewisser »Frederick Moll«.

»Ich wusste gar nicht, dass du so viele Konzerte gespielt hast«, merkte ich erstaunt an. »Du hast mir nie davon erzählt.«

Manche Heftchen zierten hübsche, bunte Vögel und Blumen, Bäume und Regenbögen. »Die hat meine Mutter gemalt«, erklärte Freddy mit einem nostalgischen Lächeln. »Ich habe nur für sie gespielt.«

»Ich kann es nicht verstehen«, sagte ich kopfschüttelnd. »Wieso hast du bloß aufgehört zu spielen? Du liebst doch Musik so sehr wie ich...«

Freddy nahm einen tiefen Zug an der Selbstgedrehten. »Tja. Der Druck. Ich hatte irgendwann einfach die Schnauze voll. Es macht keinen Sinn, wenn man nur spielt, um jemandem zu gefallen.« Das war alles, was er mir als Erklärung bot. Dann wechselte er das Thema. »Kennst du Chopin?«

Ich überlegte kurz. »Glaube schon.«

»Der hat eine Nocturne komponiert, die mir besonders gefällt und die ich auch oft gespielt habe. Die muss hier irgendwo in den Noten enthalten sein.«

Und wir durchpflügten den gesamten Stapel, und wurden schließlich sogar fündig.

Frederic Chopins Nocturne Nr. 20 in Cis-Moll.

»Hör sie dir zu Hause an«, riet mir Freddy. »Und vielleicht spielst du sie mir irgendwann einmal vor?«

Ich konnte mir nun doch ein Lächeln nicht verkneifen. »Klar doch. Wird nur ein halbes Jahrhundert dauern, bis ich so etwas Anspruchsvolles drauf haben werde…«

Und ich legte das Notenblatt zurück in eine der Mappen. Dabei bemerkte ich einen weißen Zettel, der aus dem Wirrwarr an Papieren herausragte und scheinbar keine Noten enthielt.

»Was ist das?«, fragte ich neugierig.

Freddy fischte den Zettel heraus und überflog die Zeilen des schreibmaschinengetippten Textes. Ich sah, wie er für einen Moment den Atem anhielt, und die Fassade wieder zu bröckeln drohte. Doch die Maske saß so fest wie eh und je.

»Ach, das«, sagte er und setzte sogar ein schiefes Grinsen auf. »Das ist der Brief, den ich damals auf’m Gymnasium an die Stufenkoordinatorin schreiben musste.«

Ich hätte jetzt fragen müssen: »Wieso?« Aber aus einem mir heute schleierhaften Grund nickte ich nur stumm. Er hatte mir gegenüber »den Vorfall« auf seiner alten Schule schon mehrfach knapp umrissen. Allerdings so knapp, dass ich mich heute beim besten Willen nicht mehr erinnere, welche Informationen ich nun von ihm und welche ich von seinen Eltern erhalten hatte. Ich werde auf Grund dieser Gedächtnislücken dieses Thema hier nicht weiter ausführen. Schließlich habe ich uns beiden geschworen, meinem Freund kein Unrecht zu tun, und ihm keine Sätze anzudichten, die er mir gegenüber so nicht geäußert hat. Sicher ist nur, dass Freddy bis zu diesem letzten Treffen kaum über jene Geschehnisse im April 2009 sprach – und sich nun plötzlich, als er diesen von ihm verfassten »Entschuldigungsbrief« in den Händen hielt, ganz zaghaft ein Stück weit öffnete und mich in den groben Handlungsverlauf einweihte.

Doch mir gefiel schon damals nicht die Art, wie er sprach. Was er sagte und wie er die einzelnen Sätze bildete, hatte den unheimlichen Beigeschmack einer letzten Offenbarung. So, als resümierte er an diesem Tag sein Leben vor mir. Wir hatten schon in den Wochen und Monaten zuvor deutlich häufiger über diese »ernsten Themen« gesprochen. Vielleicht war bei einem dieser Gespräche »der Vorfall 2009« seinerseits angerissen worden. Bei unseren langen, nächtlichen Telefonaten, die immer damit endeten, dass ich völlig entkräftet um drei Uhr morgens einem quengelnden Freddy »Gute Nacht« sagte und dann auflegte, hatte er mit so viel über sich erzählt, dass ich zu jedem einzelnen Telefonat ein ganzes Buch hätte schreiben können. Doch im Endeffekt war von seiner Gefühlsoffenbarung und den unzähligen Hintergrundinfos, die er mir oft in rasendem Sprechtempo zu Teil werden ließ, weniger als nötig am anderen Ende der Leitung angekommen. Das lag an gänzlicher Überforderung und der unsäglichen Anstrengung meinerseits, ihn nicht zu verletzen; lieber gar nichts sagen, als etwas Falsches. Ich hatte mir vor allen Dingen in jenem Sommer eingebildet, dass es nicht so tragisch war, dass mein verständnisvolles Zuhören ausreichen sollte. Schließlich erfüllte ich als Zuhörer mindestens einen Nutzen: Freddy konnte reden. Sich »die ganze Scheiße von der Seele reden«, wie er es nannte. Und das brauchte er vermutlich, trotz der allwöchentlichen Psychiologen-besuche.

Schon damals machte er, ob bewusst oder nicht, die Einteilung in ein Leben »vor« und »nach« den alles verändernden Ereignissen des Jahres 2009. Wobei er immer wieder betonte, dass er schon als Kind fest davon überzeugt gewesen wäre, dass mit ihm etwas ganz und gar nicht stimmen musste. Ich versuchte mir krampfhaft, einen kleinen etwa zehnjährigen Frederick vorzustellen, der an sich und der Welt zweifelt, doch ich hielt es nur schwer aus. Zu groß war die Nähe zur nicht gerade unbeschwerten eigenen Kindheit und Jugend. Zum einen fand ich den Gedanken daran als ziemlich unangenehm und störend, zum anderen wollte ich mir nicht die über die Jahre selbst erträumte, tröstende Illusion nehmen lassen, dass Frederick, der kleine begabte Klavierspieler und Bücherwurm, vielleicht anders gewesen war als in meiner wagen Vorstellung.

»Und seit wann fühlst du dich so…schlecht?«, fragte ich zart und vorsichtig. Ich war gewissermaßen erschrocken von seiner gnadenlosen Selbstreflexion, die es bei keinem Treffen in den Jahren zuvor in dieser Art gegeben hatte. Also beschloss ich an jenem Tag endlich, aus der Rolle des Zuhörers in die Rolle eines Gesprächspartners zu schlüpfen.

Er hatte sich mittlerweile wieder auf seine Matratze gepflanzt und sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, während ich neben ihm im Lehnstuhl saß.

»Ich weiß nicht«, sagte er nachdenklich. »Ich glaube schon davor.« Dann sagte er eine ganze Weile nichts mehr. Er sah so schrecklich verlassen aus. Ich verspürte wie so oft den Drang, ihn aufzumuntern. Doch wie?

»Ich verstehe dich«, sagte ich und versuchte, ihn anzulächeln. »Mir ging es oft genauso.«

Doch Freddy schaute mich nicht an, sondern nippte an einer undefinierbaren Flüssigkeit aus einer dreckigen Tasse und drehte sich dann eine neue Kippe. Schätzungsweise die Fünfte seit meiner Ankunft. »Einmal war ich mit meinen Alten im Urlaub«, sagte er mit einer Stimme, die sich anhörte, als käme sie aus einem Traum. »Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich damals war. Vielleicht elf oder zwölf… eher elf. Jedenfalls wachte ich eines Nachts auf und konnte nicht mehr einschlafen, weil ich die ganze Zeit nachdenken musste. Über den Tod. Über meinen Tod.« Und er ließ eine kleine Flamme vor seinem Gesicht aufzucken und hielt das eine Ende der Zigarette hinein. »Ist das seltsam?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nein, ich denke nicht.« Obwohl ich es nicht wusste. Aber gar nichts zu sagen wäre wahrscheinlich noch schlimmer gewesen. »Du bist nicht seltsam, Freddy. Denk das doch nicht die ganze Zeit! Du bist höchstens ein bisschen durchgeknallt. Aber wer ist das nicht?«

Ich erntete immerhin ein bitteres Schmunzeln. »Willst du was trinken? Oder hast du Hunger?«, fragte er schließlich freundlich und signalisierte mir somit, dass er eine Pause brauchte.

Ich lächelte dankbar. »Beides.«

»Dann komm mit in die Küche.« Und ehe er auch nur die eine Zigarette zu Ende geraucht hatte, stand er auf und bahnte sich seinen Weg durch den Müll.

»Rauch erstmal zu Ende, Freddy.«

»Ach was!«

»Nein, wirklich«, versetzte ich und stand etwas wackelig auf. »Bleib hier und rauch noch die eine Ziggie zu Ende. Ich geh kurz mal auf’s Klo, wir treffen uns in der Küche.«

 

Und während ich ihm Bad versuchte, die dicken Bluttropfen auf der Waschbeckenarmatur zu ignorieren, hörte ich ein heiteres Kramen und Rascheln aus der kleinen Küche. Da war er, der gute alte Freddy. 

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