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Gedenkkerze
Esther
Ein alter Mann geht vorüber
Ich war einmal ein Kind. Genau wie ihr.
Ich war ein Mann. Und jetzt bin ich ein Greis.
Die Zeit verging. Ich bin noch immer hier
Und möchte gern vergessen, was ich weiß.
Ich war ein Kind. Ein Mann. Nun bin ich mürbe.
Wer lange lebt, hat eines Tags genug.
Ich hätte nichts dagegen, wenn ich stürbe.
Ich bin so müde. Andre nennen's klug.
Ach, ich sah manches Stück im Welttheater.
Ich war einmal ein Kind, wie ihr es seid.
Ich war einmal ein Mann. Ein Freund. Ein Vater.
Und meistens war es schade um die Zeit...
Ich könnte euch Verschiedenes erzählen,
Was nicht in euren Lesebüchern steht.
Geschichten, welche im Geschichtsbuch fehlen,
Sind immer die, um die sich alles dreht.
Wir hatten Krieg. Wir sahen, wie er war.
Wir litten Not und sah'n, wie sie entstand.
Die großen Lügen wurden offenbar.
Ich hab' ein paar der Lügner gut gekannt.
Ja, ich sah manches Stück im Welttheater.
Ums Eintrittsgeld tut's mir noch heute leid.
Ich war ein Kind. Ein Mann. Ein Freund. Ein Vater.
Und meistens war es schade um die Zeit...
Wir hofften. Doch die Hoffnung war vermessen.
Und die Vernunft blieb wie ein Stern entfernt.
Die nach uns kamen, hatten schnell vergessen.
Die nach uns kamen, hatten nichts gelernt.
Sie hatten Krieg. Sie sahen, wie er war.
Sie litten Not und sah'n, wie sie entstand.
Die großen Lügen wurden offenbar.
Die großen Lügen werden nie erkannt.
Und nun kommt ihr. Ich kann euch nichts vererben:
Macht, was ihr wollt. Doch merkt euch dieses Wort:
Vernunft muß sich ein jeder selbst erwerben,
Und nur die Dummheit pflanzt sich gratis fort.
Die Welt besteht aus Neid. Und Streit. Und Leid.
Und meistens ist es schade um die Zeit.
- Erich Kästner -

Gedenkkerze
Esther
LASS SIE NICHT EIN
Wie schön es ist
im Irrgarten deiner Illusionen,
wie gut es duftet
nach Phantasie und Sehnsucht,
die sich nicht begnügt
mit dem Möglichen.
Noch hat die Hitze der Entbehrung
sein üppiges Gras nicht verbrannt,
noch hat der Hagel der Enttäuschung
seine bunten Blumen nicht geknickt,
noch können die Bäume flüstern,
und ihre Früchte schmecken
nach ewiger Freude.
Laß sie nicht ein,
die ernsten, forschen Gärtner
mit den Sicheln und Heckenscheren,
den Sägen und Äxten,
die gerade Wege anlegen wollen,
damit niemand sich mehr in dir verirrt.
Sie wissen nicht, was Schönheit ist.
Laß nur jene in dein Labyrinth,
die Hoffnung in den Händen tragen
und Zärtlichkeit in ihren Augen,
die Tage nicht nach Stunden messen
und ihr Herz öffnen
dem Zauber hinter den Erscheinungen –
und dabei ganz vergessen,
den Ausgang zu suchen.
- Hans Kruppa -

Gedenkkerze
Esther
Wo lernen wir
Wo lernen wir leben
und wo lernen wir lernen
und wo vergessen
um nicht nur Erlerntes zu leben?
Wo lernen wir klug genug sein
die Fragen zu meiden
die unsere Liebe nicht einträchtig machen
und wo
lernen wir ehrlich genug zu sein
und unserer Liebe zuliebe
die Fragen nicht zu meiden?
Wo lernen wir
uns gegen die Wirklichkeit wehren
die uns um unsere Freiheit
betrügen will
und wo lernen wir träumen
und wach sein für unsere Träume
damit etwas von ihnen
unsere Wirklichkeit wird?
- Erich Fried -

Gedenkkerze
Esther
Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt obdachlos die Unvergänglichkeit.
Rainer Maria Rilke

Gedenkkerze
Esther
Vielleicht sind wir doch nicht
Sind wir nicht Gottes Kinder
Vielleicht ist da keine
Ist keine Himmelsleiter
Vielleicht sitzt keiner am Ende
Über uns zu Gericht.
Eines ist sicher:
Wir fallen, zerfallen
Unsere Hände fallen ab
Unsere Wangen
Die Augen zuerst
Eines Tages wird nichts mehr da sein
Von dieser so und so
Gearteten Person
Nur ein Schmerz in der Magengrube
Eines der sie geliebt.
Marie Luise Kaschnitz